14km Film- und Diskussionsabend

„Mahragan“ – Musik als Revolution

Während die politischen Akteure der revolutionären Tahrir-Generation ins Hintertreffen geraten sind, brodelt es weiterhin in der ägyptischen Gesellschaft. Der „Mahragan“ mit seinen oftmals blasphemischen, aber ehrlichen Texten könnte das bleibende Symbol für die seit 2011 errungene Redefreiheit werden. An unserem 7. Film- und Diskussionsabend 2015 widmeten wir uns diesem popkulturellen Phänomen und seiner Entstehung in den Kairoer Armenvierteln. Mit „Electro chaabi“ beschreibt die Regisseurin Hind Meddeb den Aufstieg des gleichnamigen Musikstils (der auch „Mahragan“ = „Fest“ genannt wird) – von den Armenvierteln Kairos in den Mainstream der ägyptischen Popkultur. Begleitet und porträtiert werden Pioniere des Mahragan (DJ Amr Haha, DJ Ramy, DJ Vigo, Figo, MC Alaa 50 Cent, MC Sadat, Oka & Ortega, Weza – die letzten drei traten auch zusammen als „Eight Percent“ auf), die mit alten PCs, Keyboards und im Internet gefundenen Remix-Programmen begannen, die traditionelle Sha'abi-Musik elektronisch neu zu erfinden. Die oftmals schrillen Rhythmen werden begleitet von verzerrten Sprechgesängen, deren Texte sarkastisch und provokant ehrlich die Sorgen des Alltagslebens in den Armenvierteln aufgreifen. Immer wieder erklären die Künstler ihren Erfolg damit, dass sie in ihren Texten das sagen, was die Menschen auf der Straße denken. Oft handelt es sich dabei um Banalitäten oder humorvolle Zuspitzungen. Zuweilen scheuen sie sich aber auch nicht, politische Themen aufzugreifen. Porträtiert werden die Künstler beim Einüben ihrer Lieder, durch Interviews mit ihren Verwandten und bei Liveauftritten auf insgesamt vier Hochzeiten – dort, wo die Electro Sha'abi-Musiker erstmals Berühmtheit erlangten und von wo aus ihre Lieder über Mitschnitte und YouTube-Videos rasant verbreitet wurden; bis sie schließlich in den Straßen und öffentlichen Verkehrsmitteln ihrer Viertel omnipräsent waren. Der Film taucht ein in eine männlich-dominierte, jugendliche Subkultur, die sich innerhalb einer streng regulierten Gesellschaft über die Kunst einen Raum der freien Rede erkämpft hat. Beispielhaft für derartige Regeln steht die auch von den Mahragan-Sängern unkritisch hingenommene Rollenverteilung der Geschlechter: Frauen und Männer tanzen nie zusammen, immer separat. Durchgängig bietet der Film seltene Einblicke in die dicht besiedelten Gässchen und Hinterhöfe der ärmeren Vororte Kairos, wo sich unzählige Tuk-Tuks hupend in einem schier endlosen Häusermeer tummeln, wo sich (z.T. brennende) Müllberge an den Straßenrändern stapeln und Minderjährige ihr erstes Geld als Tuk-Tuk-Taxifahrer verdienen. Die Vorstädte wirken abgekoppelt von der öffentlichen Ver- und Entsorgung, ausgegrenzt. Der von den DJs besungene Drogenkonsum scheint vielen Bewohnern Erleichterung zu bieten. Er gehört zum Alltag selbst der Kinder. Während ein Großteil des Films in Stadtteilen wie Imbaba, Al-Matariyyah, El-Salam City spielt, verlagert sich das Geschehen am Ende in die Kairoer Innenstadt. Der Mahragan ist auf dem Weg in den Mainstream. Oka & Ortega unterschreiben ihren ersten Vertrag bei einer Plattenfirma und nutzen die Chance, um zu nationalen Berühmtheiten zu werden. Sie sind bei Talkshowauftritten zu sehen. Man erfährt, dass sie durch die Kairoer Clubs touren und auf Hochzeiten der gehobenen Schichten in Fünf-Sterne-Hotels spielen. Für ein Interview nach ihrem Durchbruch standen sie der Regisseurin anscheinend nicht mehr zur Verfügung. Ihr langjähriger Partner Weza hingegen wurde von dem Vertrag ausgenommen. Er bleibt zurück in den Vororten und beklagt am Ende des Films, wie es zum Bruch zwischen den dreien kam. Im anschließenden Publikumsgespräch mit Mohammed Abdelmageed M. Hussien und Ahmed Awadalla, die in Ägypten die Entstehung des Electro Sha'abi miterlebten, fand eine Einordnung des Films statt. Ahmed Awadalla wies darauf hin, dass die im Film gezeigten Lebensverhältnisse der Armenviertel, aus denen die Mahragan-Pioniere kommen, für 30 Prozent der ägyptischen Gesellschaft gelten. Der Mahragan repräsentiere diesen Teil der Bevölkerung direkt, wobei es weitere 30 Prozent gebe, die sich ebenfalls von dem Phänomen angesprochen fühlen. (Der Anteil der Jugendlichen in der ägyptischen Gesellschaft liege ebenfalls bei ca. 60 Prozent.) Der Musikstil sei bereits vor der Revolution entstanden – 2007/8 – und sei anfangs die Musik der Arbeiterklasse gewesen, die auf der Straße und auf Hochzeiten in Orten Kairos gespielt wurde, die nicht repräsentativ für die ägyptische Gesellschaft als Ganzes stünden. Erst mit der Revolution habe sich ein Raum aufgetan, der die Klassenschranken überwand. Während die Medien den Mahragan zuvor ignorierten, eroberte er in den letzten Jahren nicht nur die „Straße“, sondern auch die (Massen-)Medien. Mohammed Abdelmageed M. Hussien erklärte, dass Electro Sha'abi eine Fusion aus elektronischen Einflüssen und dem älteren Sha'abi (eine ägyptische Volksmusik) sei, der auch in seiner Heimat Oberägypten üblicherweise auf Hochzeiten gespielt werde. Er sei die Musik der einfachen Leute und ihrer Geschichten, in der Regel sei er weder kulturell bildend noch politisch. Aus dem Publikum wurde darauf hingewiesen, dass der Electro Sha'abi sich klar von dieser Tradition abhebe und zu einer durchaus kritischen „Stimme der Armen“ geworden sei. Er stehe für die Dynamik der aktuellen ägyptischen Gesellschaft. Der Frage, ob der Mahragan mit ähnlichen Phänomenen wie dem Gangster Rap in den USA oder Baile Funk in Brasilien vergleichbar sei und ob er Teil einer globalen Bewegung sei, konnte nur in Teilen zugestimmt werden. Alle drei wurden im Rahmen einer Repressionsgeschichte entwickelt und es gebe viele gemeinsame Motive wie Drogen, Gewalt, Sex oder in manchen Fällen auch Politik. In Ägypten gebe es jedoch die revolutionäre Komponente. Der Mahragan passe dadurch besser zu Hip Hop und Blues, die zur Emanzipationsgeschichte des US-amerikansichen Civil Rights Movement gehören. Auf die Frage, wie es um den Mahragan nach dem Militärcoup stehe, betonte Ahmed Awadalla, dass die Musik immer noch präsent sei. Momentan finde jedoch eine Debatte statt, ob sie Gewalt und Drogenmissbrauch fördere (genauso wie bei den populären Sobky-Filmen). Es gebe immer mehr Verbote. Darauf, dass das Besingen von Drogen in Ägypten historisch nichts Neues ist, wurde aus dem Publikum mit einem Verweis auf Texte aus den 1920er Jahren angemerkt. Der als Tradition verklärte Sha'abi sei in Wirklichkeit ein junges Phänomen aus der Zeit der politischen und ökonomischen Transformation in den 1970ern. Ein weitere Einwurf aus dem Publikum wies auf die Paradoxie hin, dass die provokanten Texte und Auftritte des Electro Sha'abi ausgerechnet in den Armenvierteln entstanden, wo sich gleichzeitig konservative und islamistische Bewegungen ausbreiten. Mohammed Abdelmageed M. Hussien erklärte dies damit, dass die Armenviertel prekäre Orte seien, in denen momentan alles ständig neugeformt werde. Deshalb gebe es derartige, durchaus konfliktträchtige Entwicklungen. Passend zum Thema unseres kommenden Film- und Diskussionsabend am 9. Dezember entspann sich eine rege Diskussion um die im Film fehlende Präsenz der Frauen: „Warum treten Männer und Frauen immer in getrennten Gruppen auf? Gibt es die neue Freiheit auch für Frauen? Wollen sie nicht sprechen?“ Aus dem Publikum wurde angemerkt, dass es in der MENA-Region das Konzept gebe, „dass alles aufgeteilt werden kann“. Es werde dort als normal hingenommen, dass Frauen und Männer sich nicht vermischen, sondern auf Distanz zueinander bleiben. Dies heiße aber nicht zwangsläufig, dass Frauen unterdrückt sind. Vielmehr hätten sie eine eigene Lebenssphäre, die im Film einfach nicht gezeigt werde. Der Film zeige nur die Jungs und damit nicht ein Bild der ganzen Gesellschaft. Von einer weiteren Kommentatorin wurde darauf hingewiesen, dass es sogar gefährlich sein könne, diese unsichtbaren Grenzen zu überschreiten. Besonders Mädchen und Frauen seien dann von Belästigungen oder Schlimmerem bedroht. Auch wurde angemerkt, dass in den oberen Gesellschaftsschichten Ägyptens und auf Popmusikfestivals beide Geschlechter zusammen tanzen und es diese strenge Separation nicht gebe. In der Öffentlichkeit der Armenviertel sei allerdings auffällig, dass nur die jungen Männer die Chance ergriffen, öffentlich zu sagen, was sie wollen. Als abschließender Hinweis wurde noch vermerkt, dass es auch öffentliche Mahragans von und für Frauen gebe, diese seien aber weder groß noch berühmt. Hier ein paar Beispiele: Unser Gast Ahmed Awadalla bloggt. Kurzbiografie der Regisseurin Hind Meddeb Musiktipps aus dem Publikum Filmbesprechung auf norient Veranstaltungsleitung und Moderation: Andreas Fricke Koordination vor Ort: Andreas Fricke Text: Steffen Benzler Fotos: Jana Vietze Übersetzung ins Englische: Alex Odlum Programm: das ehrenamtliche 14km Film Team Die 14km Film- und Diskussionsreihe wird 2015 mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – gefördert. Thema des nächsten Film- und Diskussionsabends am 9. Dezember werden Frauenrechte in Nordafrika sein. Infos zum Termin und gezeigten Film "Die Quelle der Frauen" gibt es hier. Übersicht der 14km Film- und Diskussionsabende 2015 Wir bedanken uns für die Unterstützung:


Das lang ignorierte Vorspiel zur europäischen Flüchtlingsproblematik

Filmvorführung "14 KILOMETER - Auf der Suche nach dem Glück"

Tausende von Flüchtlingen überqueren momentan täglich die Grenze nach Deutschland und suchen nach einer sicheren Bleibe. Daran, dass diese Situation in Europa nichts Neues ist, erinnert unser 6. Film- und Diskussionsabend 2015 mit Gerardo Olivares' Film „14 Kilometer – Auf der Suche nach dem Glück“ und Harald Glöde von Borderline Europe auf dem Podium. Drei Flüchtlinge – Violeta aus Mali sowie die zwei Brüder Buba und Mukela aus Niger – begleitet der semi-dokumentarische Film „14 Kilometer – Auf der Suche nach dem Glück“ auf ihrem beschwerlichen Weg nach Europa. Es zeichnet sich früh ab, dass die drei bei jeder Gelegenheit über den Tisch gezogen werden. Mit der Ankunft in Agadez beginnt für sie der knallharte Flüchtlingsalltag. Als Passagiere auf einem maximal beladenen Lkw in Richtung algerische Grenze werden sie von willkürlich agierenden Kontrollposten und korrupten Grenzbeamten schikaniert. Geht den Flüchtenden das Geld aus, müssen sie sich mit niedrigsten Arbeiten über Wasser halten, um sich irgendwann die Weiterreise leisten zu können. So gerät die ursprünglich vor einer Zwangsverheiratung geflohene Violeta mehrmals in Situationen sexueller Ausbeutung. Ausbeutung, Lebensgefahr und ein unbändiger Wille In der Wüste Ténéré, im Norden Nigers, stoppt der Lkw. Auf die drei ins algerische Tamanrasset Weitereisenden wartet ein vierstündiger Fußmarsch durch die Wüste („Richtung Nordwesten“), während der Lkw in eine andere Richtung weiterfährt. Die drei Hauptakteure freunden sich an – und sie verirren sich. Statt den angepeilten Grenzort zwischen Niger und Algerien zu erreichen, laufen sie im Kreis, bis sie erschöpft im Schatten einiger Akazien zusammenbrechen. Für Mukela kommt jede Hilfe zu spät, Violeta und Buba werden in letzter Minute von zwei zufällig vorbeiziehenden Tuareg gerettet. Die bedingungslose Gastfreundschaft der traditionell lebenden Nomaden bietet die einzige Verschnaufpause auf dem Weg nach Europa. Weiter geht es über die algerisch-marokkanische Grenze, die nach mehreren Versuchen und dank einer chaotischen Bürokratie überquert werden kann. In Marokko zeigt der Film zum ersten Mal eine staatliche Autoritätsperson, die die missliche Lage der Flüchtlinge nicht ausnutzt und sogar hilft. In Tanger bezahlen Buba und Violeta mit ihrem letzten Geld einen nobel gekleideten Schleuser für die Bootsfahrt über die Meerenge von Gibraltar. Nach der gelungenen Überfahrt, bleibt ihnen nicht viel Zeit zur Freude. Verfolgt von der Polizei verstecken sie sich zunächst in den Wäldern, bis sie bemerken, dass auch die Beamten der Guardia Civil gerne Mal ein Auge zudrücken. Die Flüchtlinge können unbehelligt weiterreisen. Vor ihnen steht eine ungewisse Zukunft. Der 2008 gedrehte Film zeigt das lang ignorierte Vorspiel zur aktuellen europäischen Flüchtlingsproblematik. Die letzte Szene beschreibt die heutige Situation an Europas Außengrenzen sehr treffend. Die Fluchtrouten haben sich geändert, die Fluchtgründe bleiben dieselben Dass der Film sehr realitätsnah ist, bestätigte Harald Glöde von Borderline Europe, der im anschließenden Publikumsgespräch den Film in den aktuellen Kontext einordnete. Die im Film gewählte Route werde laut Glöde nur noch selten eingeschlagen, da Marokko strenger kontrolliere und Kriegsschiffe von Frontex die Meerenge von Gibraltar und die Kanarischen Inseln abriegeln. Trotzdem gebe es in den Bergen um die mit hohen NATO-Stacheldrahtzäunen eingehegten Enklaven Ceuta und Melilla tausende Flüchtlinge, die regelmäßig Massenaktionen planen, bei denen in der Regel einige wenige erfolgreich über die Zäune kämen. Wegen der schwachen staatlichen Strukturen und den gefährlichen islamistischen Milizen, kämen kaum Flüchtlinge über Algerien und Mali. Die Hauptroute aus dem subsaharischen Raum verlaufe heutzutage von Agadez direkt nach Libyen, wo sich Milizen über Schleusergeschäfte finanzieren. Laut Sea-Watch gebe es in Libyen zwei wohlbekannte Auslaufpunkte, an denen Europa humanitär helfen könnte, es aber unterlässt. Über diese Wege dürften die rund 150.000 Flüchtlinge in Italien gekommen sein. Mit 450.000 Flüchtlingen sei allerdings Griechenland für viele die erste Anlaufstelle in der EU. Zum einen liege das daran, dass dort die Dublin-Regel außer Kraft gesetzt ist, Flüchtlinge können weiterreisen. Andererseits habe das auch mit der Nähe zur Türkei zu tun, die selbst schon Millionen Syrer aufgenommen hat. Neue syrische Flüchtlinge gingen lieber nach Europa. Viele Alternativen hätten sie nicht. In Nordafrika gebe es nur in Marokko – über das UNHCR – die Möglichkeit zu einer legalen Bleibemöglichkeit. Algerien, Tunesien, Libyen, und Ägypten böten keine Asylverfahren. Als Entrechteten und rassistisch Diskriminierten bliebe den Flüchtlingen dort lediglich ein prekäres Leben als billige Arbeitskräfte für Landwirtschaft, Gastronomie, etc. Auch reichere arabische Staaten wie Kuweit und Saudi-Arabien zeigten kein Interesse an einer Aufnahme der Geflohenen. Im Gegensatz zu den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien seien die Fluchtgründe aus Subsahara-Afrika hauptsächlich in den fehlenden Zukunftsperspektiven zu finden. Zum Teil sei das europäische Flüchtlingsproblem hausgemacht, wenn man die Fischereiabkommen mit afrikanischen Staaten, sowie die Logik z.B. des Milchpulver- und Fleischexports bedenke. Dazu komme der Klimawandel, der den Menschen die Existenzgrundlagen entziehe. Deshalb seien die Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen neben den bekannten Ländern Syrien, Eritrea, Afghanistan, Pakistan, Irak und Somalia eben auch Staaten wie der Tschad, Nigeria, Ghana oder Kenia. Militärische, humanitäre und politische Maßnahmen Auf die Frage, ob es möglich sei, Fluchtwege sicherer zu gestalten, wies Glöde darauf hin, dass dieses Ziel mit den momentan in der Politik debattierten Maßnahmen verfehlt würde. Stattdessen werde Symbolpolitik betrieben. Weder von der EU finanzierte Lager in Nordafrika, noch Asylzentren in Griechenland und Italien würden das Problem lösen. Man könne Flüchtlinge nicht „wie Pakete zwischenlagern“, wurde aus dem Publikum zugestimmt. Die Aushandlung eines europäischen Verteilungsschlüssels für 100.000 Flüchtlinge ist für Glöde in Anbetracht der Gesamtzahlen ein Witz und indem man Staaten, in denen systematische Ausgrenzung und Elend herrschen, zu sicheren Drittstaaten erkläre, beseitige man keine Fluchtgründe. Gleichsam wies er darauf hin, dass die EU-Außengrenzstaaten schon seit Jahren das Dublin-System reformieren wollten, dies aber immer von der deutschen Politik abgelehnt wurde. Deutschland konnte es sich dank seiner Mittellage bequem machen, während Spanien, Griechenland, Ungarn und Italien auf sich allein gestellt waren. Erst jetzt, wo es selbst betroffen sei, poche Deutschland auf Reformen. Die einzige Lösung, um der Situation langfristig die Dramatik zu nehmen, sei die Schaffung legaler Zuwanderungswege für Flüchtlinge. Ein weiteres Beispiel für Symbolpolitik sah Glöde in der Umbenennung der European Union Naval Force – Mediterranean (EU NAVFOR Med) in „Operation Sofia“ – nach dem Mädchen, das am 22. August 2015 bei einer Rettungsaktion vor der libyschen Küste auf einem Militärschiff zur Welt gekommen ist. Es sei der Versuch der militärischen Operation gegen Schleuserbanden einen humanitären Anstrich zu verleihen. Sie teile sich in drei Phasen: 1. Aufklärung, 2. Umleitung/Beschlagnahmung und 3. Zerstören der Schleuserboote (in Libyen). Phase 2 sei im Oktober 2015 eingetreten, für die dritte sei noch kein Datum absehbar. Neben den Einsätzen von Frontex und den Küstenwachen seien von zivilgesellschaftlicher Seite ein Schiff von Seawatch, zwei Schiffe von Ärzte ohne Grenzen sowie ein Schiff einer maltesischen Millionärsfamilie explizit zur Seenotrettung unterwegs. Motive der Flüchtlingspolitik Gefragt, ob die Brandstiftungen und Pegida sich negativ auf die Arbeit mit Flüchtlingen auswirken, erklärte Glöde, dass das Pendel in beide Richtungen ausschlage. Man müsse die unerwartet große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung würdigen, „Pegida ist ein sächsisches Problem“. Dass allerdings die Politik die Lage zum Stimmenfang ausnutze, um repressivere Maßnahmen einzuleiten, sei „Lichtjahre entfernt von der Willkommenskultur, die in der Zivilgesellschaft gelebt wird“. Angela Merkels Bekenntnis zu einer Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn müsse man im außenpolitischen Kontext sehen, es gehe um internationales Prestige, um das Ansehen Europas und Deutschlands als Führungsnation in Europa.   Presseheft zum Film Filme zum Thema MIGRATION in der 14km Filmdatenbank   Veranstaltungsleitung und Moderation: Andreas Fricke Koordination vor Ort: Andreas Fricke Text: Steffen Benzler Fotos: Jana Vietze Übersetzung: Alex Odlum Programm: das ehrenamtliche 14km Film Team Am 11. und 12. Juli 2014 hat 14km e.V. auf der Fachkonferenz zum Thema “Flucht // Migration // Entwicklung” mit Wissenschaftler/innen, Diasporaorganisationsvertreter/innen, Menschenrechtsaktivist/innen und interessierten Teilnehmer/innen die verschiedenen Facetten der Migration zwischen Nordafrika und Europa diskutiert. Den Verlauf der Fachtagung sowie die Protokolle der Diskussionen und weitere interessante Downloads gibt es hier. Weitergehende Informationen: Nahrain Al-Mousawi (EUME) arbeitet derzeit an einem Buch über Erzählungen von Migranten über die geographischen Sperren Mittelmeer und Sahara. Beide natürlichen Grenzen analysiert sie sowohl als trennend als auch als verbindend für die betroffenen Menschen. Ronja Kempin und Ronja Scheler (SWP 2015): "Migration nach Europa: Mehr außenpolitisches Engagement der EU in ihrer Nachbarschaft nötig" Sabine Riedel (SWP 2015): "Fluchtursache Staatszerfall am Rande der EU - Die europäische Verantwortung" Reiner Klingholz und Stephan Sievert analysieren die steuernden Faktoren der Migration über das Mittelmeer: "Krise an Europas Südgrenze" (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2014) Wolfgang Grenz, Julian Lehmann und Stefan Keßler (BpB 2015): "Schiffbruch - Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik" Andrea Di Nicola, Giampaolo Musumeci (BpB 2015): "Bekenntnisse eines Menschenhändlers - Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen" Paul Collier (BpB 2015): "Exodus - Warum wir Einwanderung neu regeln müssen" Karl-Heinz Meier-Braun, Reinhold Weber (Hg. / BpB 2014): "Migration und Integration in Deutschland - Begriffe – Fakten - Kontroversen" Wolfgang Bauer (BpB 2015): "Über das Meer - Mit Syrern auf der Flucht nach Europa" Ralph A. Austen (BpB 2014): "Sahara - 1000 Jahre Austausch von Ideen und Waren" Charlotte Wiedemann (BpB 2015): "Mali oder das Ringen um Würde - Meine Reisen in einem verwundeten Land" Dominic Johnson (BpB 2013): "Afrika - vor dem großen Sprung" Die 14km Film- und Diskussionsreihe wird 2015 mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – gefördert. Thema des nächsten Film- und Diskussionsabends am 18. November wird politische Popmusik in Kairo sein. Infos zum Termin und gezeigten Film "Electro Chaabi" gibt es hier. Weitere Film- und Diskussionsabende sind an folgenden Terminen in Planung: 18. November / 9. Dezember Wir bedanken uns für die Unterstützung:


„Unsere Geduld hat bald ein Ende!“

Der vergessene Widerstandskampf der Sahrawis in der letzten Kolonie Afrikas

In der Westsahara kämpft das Volk der Sahrawis seit Jahrzehnten um seine politische Unabhängigkeit von Marokko. Gegen Vertreibungen und unzählige Menschenrechtsverletzungen durch die marokkanischen Besatzer wehrten sich die Sahrawis erst militärisch, seit einem Friedensschluss 1991 allerdings durch friedlichen Widerstand. Dass der Konflikt um die letzte Kolonie Afrikas international kaum in der Öffentlichkeit diskutiert wird, war ein Beweggrund, ihn zum Thema des fünften Abends der 14km Film- und Diskussionsreihe zu machen. Mit der Dokumentation „LIFE IS WAITING – Referendum and Resistance in Western Sahara“ gibt die brasilianische Filmemacherin und politische Aktivistin Iara Lee dem Wüstenvolk der Sahrawis und ihrem fast vergessenen Kampf um nationale Selbstbestimmung eine Stimme. Der Film blickt auf die Geschichte des über 40 Jahre andauernden Konflikts im nordwestlichen Afrika und zeigt die Lebensumstände und den gewaltlosen Widerstand der Bewohner Westsaharas. Als sich die Kolonialmacht Spanien 1975 aus dem Gebiet zurückzieht, marschieren marokkanische und mauretanische Truppen ein, um das rohstoffreiche Territorium völkerrechtswidrig zu besetzen. Wenig später ruft die sahrawische Befreiungsbewegung Frente Polisario die unabhängige „Demokratische Arabische Republik Sahara“ aus und es kommt zum Krieg. Mauretanien zieht sich 1979 zurück, doch Marokko gibt seine Gebietsansprüche nicht auf. Zehntausende Sahrawis sind gezwungen, vor den marokkanischen Napalm- und Phosphorbomben ins algerische Exil zu fliehen, wo sie zum Teil bis heute in Flüchtlingslagern leben und durch eine über 2.700 km lange verminte Maueranlage abgeschottet sind. Obwohl es 1991 offiziell zum Waffenstillstand kommt, ist der Konflikt alles andere als gelöst. Die von den Vereinten Nationen eingesetzte Friedensmission MINURSO, die den Waffenstillstand und die Durchführung eines Referendums sicherstellen soll, ist gescheitert. Das Referendum ist bis heute ausgeblieben. Stattdessen nimmt die alltägliche Gewalt der marokkanischen Truppen gegen die Sahrawis zu. Doch diese wehren sich. Der Film lässt die vielen sahrawischen Aktivisten zu Wort kommen, die durch Kunst und politische Aktionen ihren Widerstand ausdrücken. So wie der junge Rapper Flitoox Craizy. Selbstbewusst rappt er in die Kamera, singt von Freiheit und Frieden. Obwohl er von der marokkanischen Polizei schlimm gefoltert wurde, setzt er sich weiter für die Rechte seines Volkes ein. Ebenso Aminatou Haidar, die wohl bekannteste sahrawische Menschenrechtsaktivistin. Sie wurde bei einer Demonstration verhaftet und über vier Jahre lang in einem marokkanischen Gefängnis gefoltert. „Meine Kinder können ohne Eltern aufwachsen, aber nicht ohne Würde“, begründet sie ihren Kampf für Gerechtigkeit und Unabhängigkeit ihrer Heimat. Der Film ist der kürzlich verstorbenen, sahrawischen Sängerin Mariem Hassan gewidmet, die „Stimme der Sahara“. Sie begleitete ihr Volk über Jahrzehnte mit Liedern über den Widerstand, Geschichten vom Alltag im Exil und der Identität der Sahrawis. Sie ist ein Beispiel dafür, wie kunstvoll sich politischer Widerstand ausdrücken kann und welch starke Rolle die sahrawischen Frauen im Kampf gegen die Besatzung ihres Heimatlandes einnehmen. Im Film wird sehr deutlich, dass die Sahrawis ein sehr stolzes Volk sind, dessen kollektive Identität sich stark auf ihren Widerstand gegen die Besatzer gründet. Der Film beschreibt anschaulich den Widerstandskampf der Sahrawis. In der anschließenden Publikumsdiskussion werden weitere wichtige Fragen zu den Hintergründen des Konfliktes und der Zukunft Westsaharas thematisiert. Vor allem geht es um die Verantwortung Europas und der internationalen Gemeinschaft. Saleh Mustapha ist Aktivist aus Westsahara. Geboren im Flüchtlingslager Smara in der algerischen Wüste, lebt er heute als Student in Berlin. Er betont, dass die Vereinten Nationen ihre Verantwortung in der Konfliktlösung nicht wahrnehmen würden. Dass die sahrawischen Flüchtlingscamps in Algerien von UNHCR und vom Word Food Programme versorgt werden, solle nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die Sahrawis nicht einmal fundamentale Menschenrechte gelten würden. Internationale Menschenrechtsorganisationen beklagen seit Jahren, dass Sahrawis Misshandlungen, Folter und Tod in Gefängnissen sowie der Gefahr durch Detonation von Landminen ausgesetzt seien. Dazu kommen viele Berichte über willkürliche Verhaftungen von Aktivisten, Einschränkungen der Versammlungs- und Rede- sowie der Bewegungsfreiheit. Saleh Mustapha spricht außerdem die hohe Zahl an verschwundenen Personen und politischen Gefangenen in marokkanischen Gefängnissen an. Da die Friedensmission MINURSO kein Mandat zur Überwachung der Menschenrechte habe, blieben die Vergehen der marokkanischen Sicherheitskräfte ungestraft. Bettina Semmer, Künstlerin aus Berlin, die die Westsahara durch mehrere Besuche und Kunstprojekte kennt, betont die wirtschaftlichen Interessen der Europäischen Union und insbesondere das Interesse Frankreichs und Spaniens an einem guten Verhältnis zu Marokko. Der von Marokko besetzte Westen des Territoriums liegt an der fischreichen Atlantikküste und hat viele Bodenschätze, vor allem Phosphat. Frankreichs Veto im UN-Sicherheitsrat sei folglich auch der Grund, weshalb das Mandat der UN-Mission MINURSO nicht ausgeweitet würde, um Verstöße gegen Menschenrechte zu dokumentieren. Schnell kommt die Frage nach den Parallelen zum Palästinensischen Widerstandskampf gegen die israelische Besatzung auf. Doch anders als die Palästinenser erfahren die Sahrawis bei Weitem nicht soviel Aufmerksamkeit für ihr Unabhängigkeitsbestreben. Die Gründe für das Desinteresse der Weltgemeinschaft sieht eine Sahrawi aus dem Publikum im Wunsch des Westens, Marokko stabil zu halten und darin, dass die Sahrawis ihren Widerstand gewaltlos zum Ausdruck bringen. Nicht kämpferisch, sondern frustriert sagt sie: „Solange Bomben nicht explodieren und nicht gekämpft wird, schaut doch keiner hin.“ Sie betont auch, dass viele der jungen Menschen in den besetzten Gebieten nicht mehr warten könnten. Denn die Lebensbedingungen der meisten Sahrawis sind schlecht. In Westsahara leben etwa 540.000 Sahrawis; im Exil leben Schätzungen zufolge zwischen 210.000 und 420.000 (v.a. in Marokko und Algerien). Über 60 Prozent der Bewohner der Camps sind Jugendliche und junge Erwachsene. Auch Saleh Mustapha spricht über die schlechten Bedingungen in den Camps. Wie er selbst, studieren die meisten Sahrawis im Ausland, in Algerien, Kuba oder Spanien. Doch wenn sie zurückkommen, gibt es keine Jobs für sie. Die Perspektivlosigkeit und Isolation in den Camps, die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft und das veränderte politische Klima in Nordafrika nach dem Arabischen Frühling sind es, die viele über die Rückkehr zum bewaffneten Kampf nachdenken lassen. „Das sahrawische Volk muss sich entscheiden. Es muss sich entscheiden, ob es wieder Krieg führen will oder nicht. Wenn wir keinen Krieg führen, werden vielleicht noch weitere vierzig Jahre vorübergehen.“, sagt eine sahrawische Aktivistin im Film. Doch Saleh Mustapha warnt vor einer Radikalisierung des Konflikts und verweist dabei auf den Nahen Osten, wo wie in Syrien ein jahrelanger Bürgerkrieg entstanden ist. Es scheint keine Lösung in Aussicht für den Konflikt in der letzten Kolonie Afrikas. Die politische Zukunft des umstrittenen Territoriums an der Atlantikküste ist seit Jahren ungewiss und die internationale Gemeinschaft scheint die Situation der Sahrawis hinzunehmen als Preis für politische Stabilität und wirtschaftliche Interessen in der Region. Doch es gibt auch hoffnungsvolle, selbstbewusste Stimmen. So wie die Saleh Mustaphas, der betont, dass internationale Unterstützung sehr wichtig sei. „Ohne internationale Solidarität wären unsere Stimmen nicht hörbar in der Welt!“, betont Saleh. Nur mit gewaltlosem Widerstand solle der Konflikt für die Weltöffentlichkeit sichtbar gemacht werden. Fraglich ist nur, wie lange die Sahrawis in ihrem friedlichen Kampf noch ausharren können. Wir bedanken uns bei unseren Gästen Bettina Semmer und Saleh Mustapha, die mit ihren spannenden und persönlichen Eindrücken zu einer sehr interessanten Veranstaltung über die Situation in Westsahara beigetragen haben. Veranstaltungsleitung und Moderation: Silvia Limiñana und Andreas Fricke Koordination der Filmreihe: Andreas Fricke Text: Carolin Bannorth Fotos: Andreas Fricke und Carolin Bannorth Organisation: das ehrenamtliche 14km Filmteam Die 14km Film- und Diskussionsreihe wird 2015 mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – gefördert. Weitere Film- und Diskussionsabende sind an folgenden Terminen in Planung: 28. Oktober / 18. November / 9. Dezember Wir bedanken uns für die Unterstützung:


„Die Realität ist schlimmer“ – Filmvorführung von „Darfur’s Skeleton“

Die vier Gäste in der Diskussion mit Moderatorin Carolin Bannorth: v.l.n.r. Carolin Bannorth, Hervé Tcheumeleu, Sarah Reinke, Ahmad Hassan Arnau, Abbas Tharwat Der Darfur-Konflikt – erklärt von Menschen vor Ort anhand von Geschichten, die die Menschen vor Ort erleben. Das Thema des vierten Abends unserer 14km Film- und Disskussionsreihe leitete die Dokumentation „Darfur’s Skeleton“ des sudanesischen Regisseurs Hisham Hajj Omar ein. Eine Einführung hatten die meisten der Anwesenden nötig, denn – wie es unser Gast Ahmad Hassan Arnaud, der selbst aus der Region geflüchtet ist, formulierte: „In Darfur brennt alle ein bis zwei Tage ein Dorf. Doch die Medien berichten nicht darüber.“ Der Film aus dem Jahr 2009 behandelt drei Dimensionen des Krieges in Darfur: Umweltzerstörung, die Verfolgung der Zivilbevölkerung und eine mögliche Rolle der Stammesverwaltung in der Lösung des Konflikts. Drei Bäume werden zur Zeit des Filmdrehs täglich im Kondowa-Wald gefällt, eine Rate, die die von Desertifikation bedrohte Region nicht verkraftet. Der Wald ist im Jahr 2009 so gut wie tot. Der Überlebenskampf der Bewohner des benachbarten Otash-Lagers, Zuflucht für mehrere Zehntausende aus ihrer Heimat vertriebene Menschen, hat ihn zunichte gemacht. Denn die Flüchtlinge, die im Film genauso zu Wort kommen wie die Waldpfleger, verkaufen das rare Holz des Waldes, um sich den Lebensunterhalt zu sichern. „Wir haben keine Wahl“, sagen sie. Der Kondowa-Wald symbolisiert einen Teufelskreis, der den Krieg in Darfur anheizt: Aufgrund des Klimas verknappt sich das landwirtschaftlich nutzbare Land in der Region, was zu lokalen Konflikten zwischen benachbarten Stämmen sowie nomadisierenden und sesshaften Bevölkerungsgruppen führt. Die Kriegshandlungen wiederum zerstören Dörfer und zwingen viele Menschen zur Flucht, was die bestehenden Ressourcen – wie im Kondowa-Wald – weiter angreift. Die Opfer erhalten ein Gesicht Die zahllosen Menschen auf der Flucht, die in den Nachrichten bei uns nur als abstrakt verschlüsselte Zahlen vorkommen, erhalten in der Dokumentation Namen, Gesichter und Stimmen. Aysha ist bei einem Angriff auf den Stamm der Guz angeschossen und ausgeraubt worden. Bis sie von Verwandten gerettet werden konnte, lag sie hilflos und alleine mit ihrer Tochter im leergefegten Dorf. Im Otash-Flüchtlingslager wurde ihr dann ein Bein abgenommen und sie somit zum Nichtstun verurteilt. Doch ihre Geschichte erzählt Aysha halb-lächelnd. „Woher sollen wir denn die Kraft zum Weinen nehmen?“, fragt sie. Der Lehrer Mohamed Adam hat sich dagegen seine positive Energie bewahrt. Auch er selbst musste aus seinem Heimatort fliehen und ist über mehrere unsichere Wegstationen ins Otash-Camp gelangt. Er ist jedoch entschlossen, sein Wissen an die Kinder weiterzugeben und ihnen so neue Wege zu eröffnen. Neben den direkten Opfern des Krieges kommen Bürger Darfurs zu Wort, die Kriegsursachen analysieren und die zerfahrene Lage aus ihrer persönlichen Perspektive schildern. Sie sprechen die Verantwortung der Zentralregierung in Khartoum an, die mit ihrer Strategie des „Teilens und Herrschens“ die bestehenden Konfliktlinien zwischen den Stämmen erst aktiviert habe und insbesondere durch die Befeuerung der „Janjaweed“-Miliz die Feindschaft zwischen den arabischen und schwarzafrikanischen Bevölkerungsgruppen schüre. Viele Stammesvertreter kommen zu Wort und zeigen sich zuversichtlich, dass nach einem Friedensschluss der Regierung mit den Rebellen die Konflikte zwischen den einzelnen Stämmen lösbar seien. Hierfür sehen sie die Stammesverwaltungen als Schlüsselmechanismus, der jedoch von der Regierung nicht finanziert werde. Die politischen Beobachter machen eine weitere große Aufgabe aus, ohne deren Bewältigung es keinen Frieden geben kann: Es müssen Gerichtsverfahren stattfinden und die Opfer entschädigt werden – nur so kann der Kreislauf des Hasses gestoppt werden und Frieden eine Chance erhalten. Verantwortliche und Täter zur Rechenschaft ziehen Die 14km-Mitarbeiter Carolin Bannorth und Andreas Fricke Die fehlende juristische Aufarbeitung sprach auch Sarah Reinke von der Gesellschaft für bedrohte Völker in der Publikumsdiskussion im Anschluss an die Filmvorführung an. Gerade auf lokaler Ebene müssten Gerichtshöfe eingerichtet und dauerhafte Mechanismen zur Strafverfolgung gefunden werden. Aber auch auf internationaler Ebene ist der Versuch, Präsident Omar Al-Bashir vor dem Internationalen Strafgerichtshof zur Rechenschaft zu ziehen bislang trotz einer Anklage aufgrund von Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen gescheitert. Der internationalen Gemeinschaft gelingt es nicht, zu einer Lösung zum Konflikt beizutragen. Den Friedensprozess in Doha unterstützten die internationalen Kräfte nicht, betonte Sarah Reinke – zudem blockierten Russland und China Entscheidungen im UN-Sicherheitsrat. Hervé Tcheumeleu, Geschäftsführer des Afrika Medien Zentrums, erwähnte die wirtschaftlichen Interessen nicht nur von großen Rüstungsfirmen, sondern auch von Ländern wie China, Russland und Großbritannien. Die Untätigkeit der Afrikanischen Union erklärte er mit deren Besetzung: „Viele Präsidenten in der AU stützen Al-Bashir, da sie vom gleichen Kaliber sind wie er.“ „Alle ein bis zwei Tage brennt ein Dorf" Hajooj Kuka by Toyin Ajao (CC) Ahmad Hassan Arnaud, ein junger Sudanese aus Darfur, der seit drei Jahren in Berlin lebt, hat den Krieg selbst miterlebt. „Die Realität ist noch deutlich schlimmer als sie in dem Film gezeigt wird“, ließ er die Gäste wissen. „Alle ein bis zwei Tage brennt ein Dorf. Aber die Medien berichten nicht darüber.“ Sarah Reinke pflichtete ihm bei: „Nach zwölf Jahren Genozid ist die Lage sehr düster.“ Ein positiver Ausblick fiel am Ende der Diskussion schwer. Doch zumindest der Film endete mit einem hoffnungsvollen Sprichwort: Darfur hat ein starkes Skelett – und wenn das Skelett noch intakt ist, wird sich das Fleisch wieder daran ansetzen. Der Regisseur, der aktuell unter dem Namen Hajooj Kuka arbeitet, räumt mit seiner zweiten Doku „The beats of the Antonov“ gerade Festivalpreise von Toronto bis Luxor ab. Dieser Film stellt die Musikszene seiner Heimat ins Zentrum und bringt zum Ausdruck, was in „Darfur’s Skeleton“ aufgrund der Thematisierung des direkten Leids nur anklingen kann: Gegen eine Identität, die von der Regierung aufgedrückt wird und Konflikte entfacht, hilft es nur, sich mit Enthusiasmus seine eigene kulturelle Identität bewusst zu machen. Nach dem ersten Film wussten wir: Darfurs Skelett ist noch nicht gebrochen. Nach dem zweiten Film werden wir wissen: Musik erweckt Darfurs Skelett zum Leben. Wir bedanken uns bei unseren Gästen Ahmad Hassan Arnaud, Sarah Reinke, Hervé Tcheumeleu sowie Abbas Tharwat dafür, dass sie uns das schwierige Thema durch ihre persönlichen Perspektiven ein Stück näher gebracht haben. Links zum Film:  Webseite des Films Porträt des Regisseurs Veranstaltungsleitung und Moderation: Carolin Bannorth Koordination der Filmreihe: Andreas Fricke Text: Susanne Kappe Fotos: Silvia Limiñana, Caroline Bunge Organisation: das ehrenamtliche 14km Film Team Die 14km Film- und Diskussionsreihe wird 2015 mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – gefördert. Weitere Film- und Diskussionsabende sind an folgenden Terminen in Planung: 07. Oktober / 28. Oktober / 18. November / 9. Dezember Wir bedanken uns für die Unterstützung:


Von der Schwierigkeit, dem Jemen in einer Dokumentation gerecht zu werden

Filmvorführung „Expedition Yemen - 126 Degrees in the Shade"

Zwei Schweden, ein Kamel und die weite jemenitische Wüste – da ist das Abenteuer vorprogrammiert. Am dritten Abend unserer 14km Film- und Disskussionsreihe trafen Gegensätze nicht nur im Film aufeinander, sondern auch die Dokumentation selbst polarisierte die Gäste, die sich im bis zum letzten Platz gefüllten Filmrauschpalast drängten. Amal Nasser, jemenitische Aktivistin und Mitbegründerin von ArabHub Berlin, und Mohamed al-Thawr von „Die Jugendinitiative für einen neuen Jemen“ diskutierten anschließend über Stereotype, herausfordernde Vielfalt sowie Frauenrechte im Jemen. Der schwedische Regisseur Mikael Strandberg ist ein leidenschaftlicher und erfahrener Forschungsreisender. „Es ist sehr schwer, im Jemen zu sein und sich nicht in das Land zu verlieben“, ist die Botschaft, die er uns an diesem Abend durch einen Freund überbringen lässt. Doch darüber, ob es auch seinem Film gelingt, diese Botschaft zu vermitteln und der Vielfältigkeit des Landes und der Menschen gerecht zu werden, finden sich in der anschließenden Diskussion unterschiedliche Meinungen. Eine abenteuerliche Perspektive Es ist die Perspektive eines Abenteurers, die die Kamera, vom Regisseur und seiner Begleiterin selbst gehalten, einfängt. Schon das Intro des Films bereitet den Zuschauer auf die Expedition vor, die er in den folgenden 60 Minuten vom Kinosessel aus miterlebt: Mitten in der Wüste hindert ein Stammesvertreter die beiden erschöpften Fußreisenden mit ihrem Lastkamel am Weitergehen. Es scheint keinen Weg vorwärts zu geben. Danach wird zurückgeblendet an den Ausgangspunkt der Reise, in die Hauptstadt Sanaa. Mikael Strandberg und die Journalistin Tanya Holm brennen darauf, die jemenitische Gesellschaft kennenzulernen und lassen sich von einem Sheikh zur Verhandlung eines Mordfalls mitnehmen. Regisseur Mikael ist begeistert von der guten Stimmung unter den Hunderten anwesenden Stammesmitgliedern und davon, wie sie ohne Aggressionen und ohne staatliche Institution als Mittler einen Kompromiss finden. Von den allgegenwärtigen Waffen lässt er sich dagegen ebenso wenig beeindrucken wie von der Gefahr eines möglichen Terroranschlags. Nach dieser Episode begleitet der Zuschauer Mikael und Tanya auf ihrem kräftezehrenden Fußmarsch durch die Wüste in der Region al-Mahra, wo sie stets großzügige Gastfreundschaft bei den in einfachen Verhältnissen lebenden Dorfbewohnern finden. Die beiden sind zu Fuß losgezogen, um den Menschen möglichst nahe zu kommen und sie zu zeigen, wie sie ihnen begegnen: mit großer Wärme und noch größerer Neugier für die merkwürdige Reise. Terroristen und Rebellenkämpfer kommen in dem Film genauso wenig vor wie Anschläge, Entführungen oder Hasspredigten. Denn sie begegneten den beiden auf ihrer Reise, die sie im Jahr 2012 unternahmen, schlicht nicht. Und genau darum geht es dem Regisseur: der negativen Berichterstattung über den Jemen in den westlichen Medien ein positives Bild entgegenzusetzen, in dem es endlich einmal nicht um Gewalt, sondern um ein unaufgeregtes Porträt der Menschen geht. Vielfalt versus Stereotype Amal Nasser, die als Expertin für die anschließende Diskussion geladen war, überzeugt Mikael Strandberg mit diesem Jemen-Porträt jedoch nicht. Es sind Szenen wie die Zusammenkunft der vielen bewaffneten Männer zu Beginn oder eine Szene im Beduinenzelt, in der Strandberg seinen Gastgebern ein GPS-Gerät erklärt, die sie als Reproduktion unerträglicher Stereotype über Jemeniten empfindet. Der Film zeige nicht die Realität von 9-to-5-Berufstätigen oder Café-Besuchen unter Freunden, wie sie von jemenitischen Regisseuren eingefangen werden könnten. Mohamed al-Thawr teilt diese Auffassung nicht. Für ihn ist es klar, dass ein Abenteurer nach spannenden Momentaufnahmen sucht, wie er sie auf einer gefährlichen Wüstenreise findet. Natürlich gebe es einen anderen Alltag im Jemen – dieser sei jedoch einfach nicht zeigenswert. Der Vielfalt des Jemen hat er, der sein gesamtes Leben im Wechsel zwischen dem Jemen und Deutschland verbracht hat, eine persönliche Expedition gewidmet. Um jemenitische Juden, die bis in die 60er-Jahre noch etwa 25 Prozent der Bevölkerung bildeten, kennenzulernen, stellte er über das Krankenhaus seines Vaters einen Kontakt her, reiste in deren Dorf und lud sie im Anschluss auch zu sich nach Sanaa ein. „Nachdem die Masken abgelegt wurden, sieht man tausend Gemeinsamkeiten“, schildert Mohamed al-Thawr die eindrucksvolle Erfahrung. Frauen im Jemen: emanzipiert oder rechtlos? Zur gelebten Vielfalt der Gesellschaft gehört für Amal Nasser auch, dass Frauen sich selbstverständlich im öffentlichen Raum bewegen können. Leider sei dies im Jemen aktuell ebenso wenig verwirklicht wie die Repräsentation von Frauen in politischen Ämtern. Zwar gebe es jemenitische Politikerinnen, diese gehörten jedoch im Allgemeinen dem korrupten System an und verfolgten keine eigenen politischen Programme. Junge Aktivistinnen setzten sich dagegen engagiert für gesellschaftliche Ziele ein. Über die Rolle der Frauen bei den großen Demonstrationen im Jahr 2011 entspann sich eine Kontroverse. Dr. Yahya Al-Thawr, der Vater Mohameds al-Thawr, ist überzeugt, dass die jemenitischen Frauen „sehr emanzipiert“ sind und hob ihre Rolle in den Demonstrationen hervor, wie sie auch im Nobelpreis für Tawakkol Karman deutlich werde. Amal Nasser hält dagegen, dass jemenitische Frauen als Personen und nicht in einer Frauenrolle protestiert hätten. Für sie steht es fest, dass leider fast alle Frauen im Jemen unterdrückt würden von Vätern, Brüdern und anderen Autoritätspersonen, die ihnen keine freien Entscheidungen zugestünden. Deshalb steht für sie auch der Kampf für die eigenen Rechte an erster Stelle für die Frauen – die Einspannung in die Revolution sei da nur ein nachrangiges Interesse. Aus dem Publikum pflichtet ihr ein jemenitischer Mann bei: „Wir Männer reden uns das schön, dass Frauen angeblich gleichberechtigt seien im Jemen.“ Der Jemen aktuell In der aktuellen Lage ist nichts mehr von der hoffnungsvollen Stimmung übrig, die mit den Ereignissen von 2011 und der Entmachtung von Ali Abdullah Saleh das Land ergriffen hatte. „Der Krieg ist eine Katastrophe“, fasst es Mohamed Al-Thawr zusammen. Eine Liebeserklärung, wie sie Regisseur Mikael Strandberg mit seinem Film über den Jemen abgibt, ist da zumindest ein kleines positives Signal in dem Meer von Schreckensnachrichten. Vielen Dank an Amal Nasser und Mohamed Al-Thawr für die Mitwirkung an der spannenden Diskussion und die interessanten Einblicke in die soziale und politische Situation im Jemen. Links zum Film: Webseite des Films Informationen des Verleihs Gedanken des Regisseurs Veranstaltungsleitung und Moderation: Hussein Ben Amor Koordination vor Ort: Andreas Fricke Text: Susanne Kappe Fotos: Jana Vietze Programm: das ehrenamtliche 14km Film Team Die 14km Film- und Diskussionsreihe wird 2015 mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – gefördert. Die 14km Film-Datenbank bietet ergänzend eine Sammlung an Filmen über den Jemen. Sie beinhaltet Filme aus und über den Jemen sowie Kurz- Spielfilme. Das Medium Video nutzt das Medienkollektiv "# Support Yemen", beispielsweise mit dem Kurzfilm "The Melody of our Alienation".  Als TV-Video-Dokumentation gibt es dort mehrere Interviews jemenitischer Frauen zum Thema Revolution. Thema des nächsten Film- und Diskussionsabends am 16. September wird das Land Sudan sein. Infos zum Termin und gezeigten Film "Darfur's Skeleton" gibt es hier. Weitere Film- und Diskussionsabende sind an folgenden Terminen in Planung: Oktober / 28. Oktober / 18. November / 9. Dezember Wir bedanken uns für die Unterstützung:


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