Berber in Nordafrika: Anpassung und Rebellion – Filmvorführung „Azul“
Vergangenen Mittwoch fiel der Startschuss zu unserer diesjährigen 14km Film- und Diskussionsreihe im Filmrauschpalast Moabit. Den Anfang der Reihe machte der Film „Azul“ des tunesischen Regisseurs Wassim Korbi, der selbst zur indigenen Bevölkerungsgruppe der Imazighen (Sg. Amazigh, gewöhnlich „Berber“ genannt) gehört. Im Anschluss gab Abderrahmane Ammar, Berber-Experte, Soziologe an der Humboldt-Universität zu Berlin und freier Journalist, Einblicke in die Amazigh-Kultur und die politische und soziale Situation der indigenen Bevölkerung in Nordafrika.
Der Film begleitet die Reise des Regisseurs in das Heimatdorf seines Vaters, in das er sich auf der Suche nach seinen kulturellen Wurzeln begibt. „Azul“ ist die Begrüßungsformel in Tamazight, der Berbersprache, und Sprache ist ein zentrales Thema, das die Berber, die im Film zu Wort kommen, bewegt. Stolz präsentieren sie sich vor den jahrhundertealten Ruinen historischer Bauwerke ihrer Kultur oder aber – im Kontrast dazu – in den verlassenen Straßen heruntergekommener Dörfer. Sie wünschen sich Anerkennung als indigene Bevölkerungsgruppe mit eigener Geschichte, Kultur und Sprache und nutzen die Öffnung des politischen Raums infolge der Revolution 2011, um erstmals diesen Wunsch nach Anerkennung zu artikulieren.
Die Geschichte der Berber, die heute in Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen und Ägypten leben, ist geprägt von der Vorherrschaft anderer Völker in ihrer Heimat – zunächst der Römer, dann der Araber und später der Franzosen und Italiener. „Anpassung und Rebellion“ seien daher die einzigen Optionen gewesen, die den Berbern unter der Fremdherrschaft offenstanden, erklärte der Soziologe und marokkanische Berber Abderrahmane Ammar, der als Gesprächspartner für die an den Film anschließende Diskussion eingeladen war. Als „freie Menschen“ – so lässt sich der Begriff „Imazighen“ ins Deutsche übersetzen – hätten sie sich jedoch zumeist für die Nicht-Anpassung und den Rückzug in die Gebirgsregionen entschieden, um im Kreis der Familie ihre Kultur zu pflegen und der Unterdrückung durch die Fremdherrscher zu entgehen. Tätowierungen waren eine Form der Rebellion: Die Zeichen und Ornamente, die häufig die Handrücken der Männer schmücken, geben Auskunft über Stammeszugehörigkeit und Religion und galten unter muslimischer Herrschaft als verboten. Heute wählt die Jugend andere Mittel, um ihre Identifikation auszudrücken und sich gegen Diskriminierung zu wehren. Im Film werden junge Männer gezeigt, die sich mit Rapmusik Gehör bei der eigenen Community und der breiten Gesellschaft verschaffen.
Grund zur Rebellion gibt es noch immer: In Tunesien wurde unter den Regierungen Bourguibas und Ben Alis eine strikt nationalistische politische Linie verfolgt, die Araber und die arabische Sprache in den Fokus rückte, wie die im Film porträtierten Berber beklagen. Die Berberkultur diente dagegen lediglich als folkloristischer Putz, mit dem sich im Tourismus gut Geld verdienen ließ. Vertreter dieser national-arabischen Einstellung sind heute wieder unter den politischen Entscheidungsträgern ebenso wie Repräsentanten des politischen Islam, die den Berbern teilweise Atheismus vorwerfen oder mit der Rolle der Frau in der Berberkultur nicht einverstanden sind. So beschwört eine junge Tunesierin im Film auch das Bild der „Mère Amazigh“ (die Amazigh-Mutter), in der sie aufgrund ihres Status als freier Frau mit Geschichte und Tradition eine Symbolfigur der politischen Opposition sieht. Tatsächlich klärte Abderrahmane Ammar im anschließenden Gespräch über die starke Stellung der Frau in einigen Berberstämmen auf. Bei den Tuareg beispielsweise werde die Frau im Erbrecht bevorteilt und es sei üblich, dass die Frau ihren Ehemann selbst wählt.
In der Diskussion mit den Gästen, unter denen sich auch einige TunesierInnen befanden, ging es im Anschluss hauptsächlich um die aktuelle sozio-politische Lage und die Perspektive in den verschiedenen nordafrikanischen Ländern. Abderrahmane Ammar verdeutlichte, dass gerade in einigen Ländern Bevölkerungsstatistiken tendenziell gefälscht würden, um den wahren Anteil der Berber an der Bevölkerung zu vertuschen und ihnen einen Minderheitenstatus aufzudrücken. Tatsächlich seien die Berber in Marokko jedoch in der Mehrheit, während sie in Tunesien und Libyen etwa die Hälfte der Bevölkerung stellten und in Ägypten etwa 10.000 von ihnen lebten. Rechtlich seien die Berber in Marokko am besten gestellt – dort sind sie seit 2011 politisch anerkannt und ihre Sprache ist Pflichtfach an der Schule. In Algerien sei zwar die politische Anerkennung schon früh erfolgt, jedoch seien die Berber aufgrund von Diskriminierung wirtschaftlich so abgehängt, dass sich in der Kabylei eine Unabhängigkeitsbewegung gebildet habe. Nach der Diskriminierung unter Gaddafi kämpften die Berber in Libyen nun ebenfalls um Anerkennung; in Ägypten werde dieser Kampf hauptsächlich in intellektueller Auseinandersetzung geführt.
In Tunesien regt sich nun in der jungen Generation neuer Stolz für die Herkunft und kulturelle Identität. Erst mit einem hohen Bildungsstand und internationaler Erfahrung konnte die Jugend die Scham der Elterngeneration überwinden, die sich der herrschenden Meinung von den dummen „Barbaren“ nicht widersetzte. Wenn auch noch keine Struktur für eine politische Interessenvertretung gefunden wurde, so ist eines der besten Beispiele für das erstarkte Selbstbewusstsein genau dieser Film von Wassim Korbi – „Azul“: Hallo, hier sind wir!
Vielen Dank an Abderrahmane Ammar für die interessanten Einblicke und an alle Gäste für ihr Kommen und die anregende Diskussion!
Veranstaltungsleitung und Moderation: Andreas Fricke
Text: Susanne Kappe
Fotos: Silvia Liminiana
Organisation: das ehrenamtliche 14km Film Team
In der 14km-Filmdatenbank finden Sie weitere Filme zum Thema Amazigh (Berber).
Die Internetseite Tlaxcala dokumentiert die Amazigh-Sprache. Vielen Dank an unseren Gast Hamid Behetschi für den Hinweis.
Die 14km Film- und Diskussionsreihe wird 2015 mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – gefördert.
Thema der kommenden Veranstaltung sind KINDER des Nahen Ostens im (Bürger-) Krieg und auf der Flucht. 14km präsentiert dazu den mehrfach prämierten Spielfilm „Schildkröten können fliegen“ von Bahman Ghobadi (Iran/Irak 2005) im Original (Kurdisch) mit deutschen Untertiteln. Termin: Mittwoch, 22. Juli 2015 ab 18:30 Uhr im Filmrauschpalast Berlin Moabit.
Weitere Film- und Diskussionsabende sind an folgenden Terminen in Planung:
26. August / 16. September / 07. Oktober / 28. Oktober / 18. November / 9. Dezember
Wir bedanken uns für die Unterstützung: