Algerien
„Um dem Leben einen Sinn zu geben, braucht man das Recht sich frei bewegen zu dürfen!“ –
Beim zweiten de:kolonial Film- und Diskussionsabend am 14. August ging es um Migration und Flucht zwischen der EU und Nordafrika sowie dem Mittleren Osten. Ausgehend von Leïla Saadnas Film "Hinter dem Meer" diskutierten Dr. Olaf Tietje, Mariana Karkoutly sowie die Regisseurin selbst über Gründe für ein Verlassen der Heimat und für eine Rückkehr. Die Podiumsteilnehmer*innen in der Diskussion, von links nach rechts: Regisseurin Leïla Saadna, Moderatorin Julia Baumann, Soziologe Dr. Olaf Tietje und Mariana Karkoutly vom Kollektiv Polylog; Foto: Susanne Kappe. Ich hoffe darauf ein Vogel zu werden, um über die Häuser zu fliegen… Oh, liebste Mutter, das Exil betrübt mich! Ich hoffe darauf ein Mond zu werden, um über den Wolken zu fliegen… Seine Liebsten sehen, sie ihren Schmerz vergessen lassen. Oh, liebste Mutter! Das Exil tötet mich“, singt Nadia Ammour auf Tamaziɣt, der Sprache der Berber in „Hinter dem Meer (Originaltitel مور البحر (Mor Lebhar), 2017). Sie singt vom Schmerz der Sehnsucht und der Einsamkeit, vom Vermissen und von der Liebe zu den Zurückgelassenen. Enttäuschte Träume Leïla Saadna erforscht in ihrem Film genau diese Gefühle weiter und erzählt die Geschichten von vier Protagonist*innen, von ihrem Weg nach Europa, ihrer Suche nach Freiheit und Würde, ihren Erfahrungen, von Enttäuschung und Not angesichts der erbarmungslosen Einwanderungsgesetze. „Menschen, die migrieren haben meist zunächst ein sehr idealistisches Bild von Europa, als einen Platz des Friedens, an dem sie arbeiten können und gut leben können – ich fand es sehr interessant, auch einmal diese Seite zu zeigen: Von Menschen zu erzählen, die sich mit diesem Bild bereits selbst auseinandergesetzt haben und enttäuscht wurden“, so Saadna über ihr Werk. Knackpunkt sei, so die Regisseurin udn bildenen Künstlerin aus Algier, dass Algerien, das Herkunftsland aller Protagonist*innen nur ein sehr entbehrungsreiches Leben bieten könne: „Menschen wollen Unabhängigkeit“, erklärt sie angelehnt an das Motto der algerischen Proteste der letzten Monate weiter „und, um dem Leben einen Sinn zu geben, braucht man das Recht, sich frei bewegen zu dürfen!“ Die Motivation überhaupt nach Europa zu migrieren, stellt auch Dr. Olaf Tietje fest, liege selten ausschließlich in wirtschaftlichen Gründen oder an sogenannten „push-“ und „pull-“ Faktoren. Es gehe doch mehr um ein „Leben in Würde und Respekt“ und die Erfüllung von Zukunftswünschen und Träumen, so der Soziologe und wissenschaftliche Mitarbeiter der Universität Kassel. Die Bezeichnung „Wirtschaftsmigrant*innen“, die eine rein wirtschaftliche Verbesserung der Lebensumstände suchten, sei deshalb - so waren sich alle Podiumsteilnehmer*innen einig - wesentlich zu kurz gedacht. Ganz im Gegenteil stellt Tietje fest, würden Menschen nach der Migration häufig noch viel schlechtere Verhältnisse als in ihrem Heimatland vorfinden: „Die Menschen, mit denen ich gearbeitet habe, haben auch in Spanien, also in Europa, nicht dieses respektvolle, menschenwürdige Leben gefunden, von dem sie einst träumten. Gerade in Südspanien vor dem Hintergrund der Entwicklungen nach der Finanzkrise 2008 und den Folgejahren etwa werden Migrant*innen wesentlich schlechter bezahlt als in ihren Heimatländern. Wir sprechen hier von etwa vier Euro in der Stunde bei einer sieben Tage Woche und einem 12-Stunden-Tag. Viele arbeiten in staatlich verordneter Illegalität, viele haben keine Chance auf Papiere. Diese Situation führt natürlich dazu, dass die Menschen auf der Suche nach einem echten Leben weiterwandern, etwa nach Deutschland. Die meisten jedoch, mit denen ich gesprochen habe, wollten wieder zurück“. Das sexualisierte migrantische Selbst im Spiegel einer politischen Doppelmoral In ihrer politischen Analyse kritisiert Regisseurin Saadna dann vor allem eine starke Doppelmoral im Auftreten der deutschen Bundesregierung in Nordafrika: „Wir wissen doch, dass sie Interesse an unserem Gas und unserem Öl und im Waffenhandel dort haben!“ Die „Afrika-Reise” der Bundeskanzlerin 2018, in der sie auch Algerien besuchte, sieht sie kritisch. Auf der einen Seite hätte man viele nordafrikanische Länder als sogenannte „sichere Herkunftsstaaten“ deklariert, auf der anderen Seite würden Menschenrechtsverletzungen angemahnt. „Wir hatten zwanzig Jahre Diktatur – immer mit der Unterstützung von Europa“, prangert sie an. Gleichzeitig würden Deals mit korrupten und diktatorischen Regierungen geschlossen, die die migrierenden Algerier*innen an der Ausreise nach Europa hindern sollten. Mit Blick auf die deutsche Gesellschaft merkt die Regisseurin an, dass nordafrikanische Migrant*innen stilisiert würden zu “Nafri-Kriminellen”, "Machos mit dem Potenzial zur andauernden sexuellen Belästigung der weißen Frau". Dies sei aber nichts Neues und etwa auch schon in den 1990er Jahren in Deutschland abzulesen gewesen, so die Künstlerin. Der größte Teil der „Willkommenskultur“ in Deutschland bestehe auch heute aus Ehrenamtlichen, stimmt der Soziologe Tietje zu: „Wir sprechen hier nicht vom Staat und auch nicht von der ganzen deutschen Gesellschaft!“ Im Vergleich zu den letzten Jahrzehnten habe sich damit nicht viel getan, das sehe man etwa auch an Wortwahl und den vorherrschenden Diskursformen. Gerade im Bezug zu Gender profitiere man hier meist von einer vorurteilsbelasteten Grenzziehung einer normativen Dualität: „Wir sprechen über sie und nicht über uns. Ich denke aber, die deutsche Gesellschaft ist genauso sexistisch wie jede andere Gesellschaft. Migrantische Frauen werden jedoch häufig generell als „Opfer“ viktimisiert und migrantische Männer generell als Täter deklariert – dies ist auch nur ein anderer Versuch, migrantische Praxen zu regeln und einzuschränken“. Gleichzeitig jedoch betont die Aktivistin Mariana Karkoutly vom Kollektiv Poylog und Adopt a Revolution, die selbst aus Syrien nach Deutschland kam, unter Zustimmung des Podiums, gebe es durchaus Erfahrungen zwischen Flucht und Ankommen, die explizit „weiblich“ oder „männlich“ seien. Die Regisseurin Saadna fügt an, dass Migration an sich in einer Gesellschaft mit einer hochgradig genderabhängigen Rollenverteilung, wie etwa in Algerien, oft Männer-Sache bliebe: „Es ist das, was ich „die andere Seite des Exils“ genannt habe und was oft im Verborgenen bleibt“, sagt sie. Ganz im Sinne Tietjes betont sie weiter, sehe man etwa sehr gut am Beispiel der „Kölner Silvesternacht 2015“, wie solche Ereignisse politisch genutzt würden, um restriktive und migrationseinschränkende Maßnahmen zu legitimieren. Sehr spannend sei, fügt sie an, dass „der männliche Migrant“ in Europa oft in Verbindung mit einer extremen Sexualisierung abwertend betrachtet würde. Von Ankommen und Bleiben in einer Gesellschaft der Verurteilung Karkoutly, Teil des Kollektiv Polylog, sieht gerade deshalb im Umgang mit den Migrant*innen eines der größtes Probleme. In den Heimen, so erzählt sie, lebten nicht nur Menschen mit sehr unterschiedlichen Motivationen und Hintergründen zusammen, sondern die deutsche Migrationspolitik und die sehr unterschiedliche Privilegien- und Statusverteilung führe automatisch zu einer Hierarchisierung von Geflüchteten innerhalb der eigenen Gruppe. Dadurch werde das Bild des „guten“ und des „schlechten“ Flüchtlings erst kreiert. Selbst wenn man eine Chance zu bleiben und einen Aufenthaltstitel erhalte, die Sprache erlernt und eine Arbeit gefunden habe, sei dies immer zeitlich begrenzt auf ein paar Jahre: Die Angst zurückgehen zu müssen, abgeschoben zu werden aber bleibt. Man müsse bei der Diskussion bedenken, wie solche Strukturen, wie etwa die Festung Europa entstünden, pflichtet Tietje bei. Flüchtlingslager in Deutschland seien etwa oft weit ab in der Peripherie und an Stadträndern gelegen. In den Lagern selbst gäbe es große Unterschiede. Viele Menschen dort könnten die Heime etwa aufgrund von mangelnder Infrastruktur nicht verlassen, manche hätten nicht einmal Zugang zu einer adäquaten Rechtsberatung. Man müsse sich bewusstwerden, dass diese Zustände inmitten von Europa, inmitten von Deutschland existierten. Welche Auswirkung dieser Zustand auf Geflüchtete und ihren Alltag haben kann, zeigte etwa auch die Foto-Ausstellung „Gefangene einer verlorenen Zeit“, die ebenfalls während des Abends zu sehen war. Die von Geflüchteten selbst aufgenommenen Bilder zeigten deutlich die Lebensumstände und Herausforderungen, denen sie sich gerade auch im ländlichen Raum abseits gesellschaftlicher Teilhabe zu stellen haben: Etwa dem Leben im Heim auf dem Land mit schlechter Anbindung, in engen Mehrbettzimmern ohne Internet oder Funkempfang, den oftmals langen Wartezeiten in einem unübersichtlichen und häufig unfairen Asylverfahren sowie dem stark fremdbestimmend strukturierten Alltag in den Unterkünften. Diesen Zustand des ewigen Wartens in einer Zwischenwelt beschrieben viele der Geflüchteten der Initiatorin Julia Baumann als „gefangen sein in einer verlorenen Zeit“. Ein „Ankommen“ werde durch diese Politik fast unmöglich gemacht so Karkoutly; ein Sprachkurs oder eine Arbeitsstelle reiche dafür auf keinen Fall aus – wesentlich wichtiger sei es jedoch in einem Land Zukunftsperspektiven zu haben. Vor allem der Begriff der Integration sei hier kritisch zu beleuchten, ist sich das Podium auf Nachfrage aus dem Publikum einig: Hinter dem Konzept stecke doch, so Karkoutly, die Idee, dass alle Menschen in Deutschland gleich seien und nun eine Gruppe neuankommende Andersartige integriert werden müssten. „Aber so ist es natürlich nicht – die Menschen, die hier leben und die Menschen die kommen sind alle sehr unterschiedliche auf einem individuellen Level“, so die Aktivistin. Für sie sei Integration deshalb ein „verfluchtes Wort“ so führt Saadna weiter aus: „Es ist die Aufgabe des Staates nicht der Menschen, das zu machen. Ich würde es gerne durch Partizipation ersetzen.“ „Die meiste Zeit sprechen wir in Deutschland nicht über Integration, sondern über Assimilation“, so pflichtet auch Tietje seinen Vorrednerinnen bei. Hier entschieden viele Menschen über das Schicksal anderer, die kaum Möglichkeiten zur Partizipation in der Gesellschaft hätten. Gerade das Recht zu wählen sei hier essenziell, so die einstimmige Meinung im Podium. Diese sehr frustrierende Situation sei jedoch keinesfalls auf Ewigkeiten festgeschrieben betont Karkoutly die Handlungsmacht des Einzelnen: „Wenn wir gemeinsam aufstehen und Nein zu dem sagen, was hier gerade passiert, können wir etwas bewirken – aber wir müssen es zusammen tun!“ Es diskutierten am 14. August 2019 im Aquarium am Südblock: Leïla Saadna, Regisseurin und Video-Künstlerin aus Algier; Dr. Olaf Tietje, Wissenschaftlicher Mitarbeiter im BMBF-Verbundprojekt „Willkommenskultur und Demokratie in Deutschland“ der Universität Kassel; Mariana Karkoutly, Mitglied des Kollektiv Polylogs und Projektkoordinatorin bei „Adopt a Revolution“ unter der Moderation von Julia Baumann. Diskussion unter Einbeziehung des zahlreichen Publikums im Aquarium am Südblock während des 2. 14km de:kolonial Film- und Diskussionsabends; Foto: Susanne Kappe. Alle hier vorliegenden direkten und indirekten Zitate wurden von der Autorin vom Englischen ins Deutsche übersetzt und sinngemäß gekürzt. Der Film- und Diskussionsabend der Reihe 14km de:kolonial wurde gefördert von:
Der algerische Bürgerkrieg
14km Film- und Diskussionsabend
Yema (Algerien/Frankreich, 2012, OmeU, 90 min) von Djamila Sahraoui am Mittwoch, 16.11.2016, 18:30 Uhr (Filmstart 19:00 Uhr), im Filmrauschpalast in der Kulturfabrik Moabit, Lehrter Str. 35, 10557 Berlin Moabit 14km e.V. präsentiert den fünften Filmabend der 14km Film und Diskussionsreihe 2016. Ein entlegenes kleines Haus in den Bergen Algeriens. Dieverzweifelte Ouardia, gespielt von der Regisseurin Djamila Sahraoui, begräbt ihren Sohn Tarik, der Soldat in der algerischen Armee war. Sie macht dessen Bruder Ali, den Anführer einer islamistischen Gruppierung, für Tariks Tod verantwortlich. Ali hat einen seiner Männer geschickt, um Ouardia zu bewachen. Diese pflegt hingebungsvoll ihren Garten, um diesen erblühen zu lassen. Der Film zeigt, welches Leid, welche Risse und Traumata der Bürgerkrieg in vielen algerischen Familien hinterlassen hat. Über Algerien hört man nur wenig in der deutschen Medienberichterstattung. Zuletzt geriet Algerien nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln in den Fokus der deutschen Aufmerksamkeit - unter den Stichwörtern "kriminelle junger Männer", "sicheres Herkunftsland" und "Abschiebungen". Dieser stereotypen Betrachtung möchten wir eine differenzierte Auseinandersetzung entgegensetzen. Deshalb nehmen wir mit dem Film "Yema" den algerischen Bürgerkrieg in den Fokus und stellen Fragen nach der historischen und aktuellen Entwicklung des Landes. Was passierte in Algerien während des Arabischen Frühlings? Wie ist die politische und soziale Lage heute? Was treibt die Menschen auf dem gefährlichen Weg übers Mittelmeer nach Europa? Im Anschluss an den Film wird es eine moderierte Publikumsdiskussion mit Expert*innen zu diesen Themen geben. Der Eintritt ist frei, um eine freiwillige Spende wird gebeten. Veranstaltungsort ist der Filmrauschpalast in der Kulturfabrik in Berlin Moabit statt (Lehrter Straße 35, 10557 Berlin).
Das lang ignorierte Vorspiel zur europäischen Flüchtlingsproblematik
Filmvorführung "14 KILOMETER - Auf der Suche nach dem Glück"
Tausende von Flüchtlingen überqueren momentan täglich die Grenze nach Deutschland und suchen nach einer sicheren Bleibe. Daran, dass diese Situation in Europa nichts Neues ist, erinnert unser 6. Film- und Diskussionsabend 2015 mit Gerardo Olivares' Film „14 Kilometer – Auf der Suche nach dem Glück“ und Harald Glöde von Borderline Europe auf dem Podium. Drei Flüchtlinge – Violeta aus Mali sowie die zwei Brüder Buba und Mukela aus Niger – begleitet der semi-dokumentarische Film „14 Kilometer – Auf der Suche nach dem Glück“ auf ihrem beschwerlichen Weg nach Europa. Es zeichnet sich früh ab, dass die drei bei jeder Gelegenheit über den Tisch gezogen werden. Mit der Ankunft in Agadez beginnt für sie der knallharte Flüchtlingsalltag. Als Passagiere auf einem maximal beladenen Lkw in Richtung algerische Grenze werden sie von willkürlich agierenden Kontrollposten und korrupten Grenzbeamten schikaniert. Geht den Flüchtenden das Geld aus, müssen sie sich mit niedrigsten Arbeiten über Wasser halten, um sich irgendwann die Weiterreise leisten zu können. So gerät die ursprünglich vor einer Zwangsverheiratung geflohene Violeta mehrmals in Situationen sexueller Ausbeutung. Ausbeutung, Lebensgefahr und ein unbändiger Wille In der Wüste Ténéré, im Norden Nigers, stoppt der Lkw. Auf die drei ins algerische Tamanrasset Weitereisenden wartet ein vierstündiger Fußmarsch durch die Wüste („Richtung Nordwesten“), während der Lkw in eine andere Richtung weiterfährt. Die drei Hauptakteure freunden sich an – und sie verirren sich. Statt den angepeilten Grenzort zwischen Niger und Algerien zu erreichen, laufen sie im Kreis, bis sie erschöpft im Schatten einiger Akazien zusammenbrechen. Für Mukela kommt jede Hilfe zu spät, Violeta und Buba werden in letzter Minute von zwei zufällig vorbeiziehenden Tuareg gerettet. Die bedingungslose Gastfreundschaft der traditionell lebenden Nomaden bietet die einzige Verschnaufpause auf dem Weg nach Europa. Weiter geht es über die algerisch-marokkanische Grenze, die nach mehreren Versuchen und dank einer chaotischen Bürokratie überquert werden kann. In Marokko zeigt der Film zum ersten Mal eine staatliche Autoritätsperson, die die missliche Lage der Flüchtlinge nicht ausnutzt und sogar hilft. In Tanger bezahlen Buba und Violeta mit ihrem letzten Geld einen nobel gekleideten Schleuser für die Bootsfahrt über die Meerenge von Gibraltar. Nach der gelungenen Überfahrt, bleibt ihnen nicht viel Zeit zur Freude. Verfolgt von der Polizei verstecken sie sich zunächst in den Wäldern, bis sie bemerken, dass auch die Beamten der Guardia Civil gerne Mal ein Auge zudrücken. Die Flüchtlinge können unbehelligt weiterreisen. Vor ihnen steht eine ungewisse Zukunft. Der 2008 gedrehte Film zeigt das lang ignorierte Vorspiel zur aktuellen europäischen Flüchtlingsproblematik. Die letzte Szene beschreibt die heutige Situation an Europas Außengrenzen sehr treffend. Die Fluchtrouten haben sich geändert, die Fluchtgründe bleiben dieselben Dass der Film sehr realitätsnah ist, bestätigte Harald Glöde von Borderline Europe, der im anschließenden Publikumsgespräch den Film in den aktuellen Kontext einordnete. Die im Film gewählte Route werde laut Glöde nur noch selten eingeschlagen, da Marokko strenger kontrolliere und Kriegsschiffe von Frontex die Meerenge von Gibraltar und die Kanarischen Inseln abriegeln. Trotzdem gebe es in den Bergen um die mit hohen NATO-Stacheldrahtzäunen eingehegten Enklaven Ceuta und Melilla tausende Flüchtlinge, die regelmäßig Massenaktionen planen, bei denen in der Regel einige wenige erfolgreich über die Zäune kämen. Wegen der schwachen staatlichen Strukturen und den gefährlichen islamistischen Milizen, kämen kaum Flüchtlinge über Algerien und Mali. Die Hauptroute aus dem subsaharischen Raum verlaufe heutzutage von Agadez direkt nach Libyen, wo sich Milizen über Schleusergeschäfte finanzieren. Laut Sea-Watch gebe es in Libyen zwei wohlbekannte Auslaufpunkte, an denen Europa humanitär helfen könnte, es aber unterlässt. Über diese Wege dürften die rund 150.000 Flüchtlinge in Italien gekommen sein. Mit 450.000 Flüchtlingen sei allerdings Griechenland für viele die erste Anlaufstelle in der EU. Zum einen liege das daran, dass dort die Dublin-Regel außer Kraft gesetzt ist, Flüchtlinge können weiterreisen. Andererseits habe das auch mit der Nähe zur Türkei zu tun, die selbst schon Millionen Syrer aufgenommen hat. Neue syrische Flüchtlinge gingen lieber nach Europa. Viele Alternativen hätten sie nicht. In Nordafrika gebe es nur in Marokko – über das UNHCR – die Möglichkeit zu einer legalen Bleibemöglichkeit. Algerien, Tunesien, Libyen, und Ägypten böten keine Asylverfahren. Als Entrechteten und rassistisch Diskriminierten bliebe den Flüchtlingen dort lediglich ein prekäres Leben als billige Arbeitskräfte für Landwirtschaft, Gastronomie, etc. Auch reichere arabische Staaten wie Kuweit und Saudi-Arabien zeigten kein Interesse an einer Aufnahme der Geflohenen. Im Gegensatz zu den Bürgerkriegsflüchtlingen aus Syrien seien die Fluchtgründe aus Subsahara-Afrika hauptsächlich in den fehlenden Zukunftsperspektiven zu finden. Zum Teil sei das europäische Flüchtlingsproblem hausgemacht, wenn man die Fischereiabkommen mit afrikanischen Staaten, sowie die Logik z.B. des Milchpulver- und Fleischexports bedenke. Dazu komme der Klimawandel, der den Menschen die Existenzgrundlagen entziehe. Deshalb seien die Hauptherkunftsländer von Flüchtlingen neben den bekannten Ländern Syrien, Eritrea, Afghanistan, Pakistan, Irak und Somalia eben auch Staaten wie der Tschad, Nigeria, Ghana oder Kenia. Militärische, humanitäre und politische Maßnahmen Auf die Frage, ob es möglich sei, Fluchtwege sicherer zu gestalten, wies Glöde darauf hin, dass dieses Ziel mit den momentan in der Politik debattierten Maßnahmen verfehlt würde. Stattdessen werde Symbolpolitik betrieben. Weder von der EU finanzierte Lager in Nordafrika, noch Asylzentren in Griechenland und Italien würden das Problem lösen. Man könne Flüchtlinge nicht „wie Pakete zwischenlagern“, wurde aus dem Publikum zugestimmt. Die Aushandlung eines europäischen Verteilungsschlüssels für 100.000 Flüchtlinge ist für Glöde in Anbetracht der Gesamtzahlen ein Witz und indem man Staaten, in denen systematische Ausgrenzung und Elend herrschen, zu sicheren Drittstaaten erkläre, beseitige man keine Fluchtgründe. Gleichsam wies er darauf hin, dass die EU-Außengrenzstaaten schon seit Jahren das Dublin-System reformieren wollten, dies aber immer von der deutschen Politik abgelehnt wurde. Deutschland konnte es sich dank seiner Mittellage bequem machen, während Spanien, Griechenland, Ungarn und Italien auf sich allein gestellt waren. Erst jetzt, wo es selbst betroffen sei, poche Deutschland auf Reformen. Die einzige Lösung, um der Situation langfristig die Dramatik zu nehmen, sei die Schaffung legaler Zuwanderungswege für Flüchtlinge. Ein weiteres Beispiel für Symbolpolitik sah Glöde in der Umbenennung der European Union Naval Force – Mediterranean (EU NAVFOR Med) in „Operation Sofia“ – nach dem Mädchen, das am 22. August 2015 bei einer Rettungsaktion vor der libyschen Küste auf einem Militärschiff zur Welt gekommen ist. Es sei der Versuch der militärischen Operation gegen Schleuserbanden einen humanitären Anstrich zu verleihen. Sie teile sich in drei Phasen: 1. Aufklärung, 2. Umleitung/Beschlagnahmung und 3. Zerstören der Schleuserboote (in Libyen). Phase 2 sei im Oktober 2015 eingetreten, für die dritte sei noch kein Datum absehbar. Neben den Einsätzen von Frontex und den Küstenwachen seien von zivilgesellschaftlicher Seite ein Schiff von Seawatch, zwei Schiffe von Ärzte ohne Grenzen sowie ein Schiff einer maltesischen Millionärsfamilie explizit zur Seenotrettung unterwegs. Motive der Flüchtlingspolitik Gefragt, ob die Brandstiftungen und Pegida sich negativ auf die Arbeit mit Flüchtlingen auswirken, erklärte Glöde, dass das Pendel in beide Richtungen ausschlage. Man müsse die unerwartet große Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung würdigen, „Pegida ist ein sächsisches Problem“. Dass allerdings die Politik die Lage zum Stimmenfang ausnutze, um repressivere Maßnahmen einzuleiten, sei „Lichtjahre entfernt von der Willkommenskultur, die in der Zivilgesellschaft gelebt wird“. Angela Merkels Bekenntnis zu einer Aufnahme der Flüchtlinge aus Ungarn müsse man im außenpolitischen Kontext sehen, es gehe um internationales Prestige, um das Ansehen Europas und Deutschlands als Führungsnation in Europa. Presseheft zum Film Filme zum Thema MIGRATION in der 14km Filmdatenbank Veranstaltungsleitung und Moderation: Andreas Fricke Koordination vor Ort: Andreas Fricke Text: Steffen Benzler Fotos: Jana Vietze Übersetzung: Alex Odlum Programm: das ehrenamtliche 14km Film Team Am 11. und 12. Juli 2014 hat 14km e.V. auf der Fachkonferenz zum Thema “Flucht // Migration // Entwicklung” mit Wissenschaftler/innen, Diasporaorganisationsvertreter/innen, Menschenrechtsaktivist/innen und interessierten Teilnehmer/innen die verschiedenen Facetten der Migration zwischen Nordafrika und Europa diskutiert. Den Verlauf der Fachtagung sowie die Protokolle der Diskussionen und weitere interessante Downloads gibt es hier. Weitergehende Informationen: Nahrain Al-Mousawi (EUME) arbeitet derzeit an einem Buch über Erzählungen von Migranten über die geographischen Sperren Mittelmeer und Sahara. Beide natürlichen Grenzen analysiert sie sowohl als trennend als auch als verbindend für die betroffenen Menschen. Ronja Kempin und Ronja Scheler (SWP 2015): "Migration nach Europa: Mehr außenpolitisches Engagement der EU in ihrer Nachbarschaft nötig" Sabine Riedel (SWP 2015): "Fluchtursache Staatszerfall am Rande der EU - Die europäische Verantwortung" Reiner Klingholz und Stephan Sievert analysieren die steuernden Faktoren der Migration über das Mittelmeer: "Krise an Europas Südgrenze" (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2014) Wolfgang Grenz, Julian Lehmann und Stefan Keßler (BpB 2015): "Schiffbruch - Das Versagen der europäischen Flüchtlingspolitik" Andrea Di Nicola, Giampaolo Musumeci (BpB 2015): "Bekenntnisse eines Menschenhändlers - Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen" Paul Collier (BpB 2015): "Exodus - Warum wir Einwanderung neu regeln müssen" Karl-Heinz Meier-Braun, Reinhold Weber (Hg. / BpB 2014): "Migration und Integration in Deutschland - Begriffe – Fakten - Kontroversen" Wolfgang Bauer (BpB 2015): "Über das Meer - Mit Syrern auf der Flucht nach Europa" Ralph A. Austen (BpB 2014): "Sahara - 1000 Jahre Austausch von Ideen und Waren" Charlotte Wiedemann (BpB 2015): "Mali oder das Ringen um Würde - Meine Reisen in einem verwundeten Land" Dominic Johnson (BpB 2013): "Afrika - vor dem großen Sprung" Die 14km Film- und Diskussionsreihe wird 2015 mit Haushaltsmitteln des Landes Berlin – Landesstelle für Entwicklungszusammenarbeit – gefördert. Thema des nächsten Film- und Diskussionsabends am 18. November wird politische Popmusik in Kairo sein. Infos zum Termin und gezeigten Film "Electro Chaabi" gibt es hier. Weitere Film- und Diskussionsabende sind an folgenden Terminen in Planung: 18. November / 9. Dezember Wir bedanken uns für die Unterstützung: